Realitätsverweigerung und die Übel des „freien“ Denkens
Von Felix Menzel
Um die Grundübel der Moderne zu verstehen, wird man an provokanten, ja sogar skandalösen Thesen nicht vorbeikommen. Vielleicht ist genau dies auch der Grund, warum der Politologe Eric Voegelin (1901 bis 1985) so wenigen als einer der wichtigsten und originellsten Denker des 20. Jahrhunderts bekannt ist. Voegelin, der Österreich nach dem Anschluß an das Deutsche Reich 1938 in Richtung der USA verließ, hatte keinen geringeren Anspruch, als eine „Neue Wissenschaft der Politik“ zu begründen und knüpfte damit direkt an den italienischen Philosophen Giambattista Vico an, der fast 200 Jahre vor Oswald Spengler ein zyklisches Geschichtsbild entwarf.
Im Gegensatz zu Vico und Spengler dachte Voegelin jedoch nicht morphologisch, sondern retrospektiv. Das heißt, er suchte nach den Übeln der Moderne und verfolgte sie zurück bis an ihre Ursprünge. Die Kritik Voegelins setzte dabei an der Freiheit des modernen Menschen, seiner Realitätsverweigerung und darauf aufbauend an der Kreation und Umsetzung von Gesellschaftsutopien an. So einfach wie möglich ausgedrückt war er der Meinung, daß der moderne Mensch durch die Ausblendung Gottes und der Vergangenheit sich die Freiheit genommen habe, gegen die Realität zu rebellieren und dabei zerstörerische Ideologien hervorgebracht habe, die sich als fortschrittlich tarnen und deshalb durch das Leben des Geistes kaum bekämpft werden können.
Dies trifft sowohl auf den Marxismus, den Nationalsozialismus, den multikulturellen Globalismus der Gegenwart als auch auf die doxische Vernunft der Aufklärung zu. Sie alle haben eines gemeinsam: die Revolte gegen den gesunden Menschenverstand und den Aufbau imaginärer Welten, die maßgeblich werden für das eigene politische Handeln. Dagegen vorzugehen, ist jedoch deshalb so schwer in einer Massengesellschaft, weil man die Menschen, denen zumindest offiziell die Souveränität übertragen wurde, enttäuschen müßte über ihre eigene Freiheit. Voegelin spricht hier also die Unfähigkeit des modernen Menschen an, nicht frei zu sein. Wenn der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk von den „schrecklichen Kindern der Neuzeit“ spricht, dann meint er Ähnliches. Diese Kinder würden immer wieder bei Null anfangen wollen, um etwas ganz Eigenes machen zu können. Sie meinen, das Rad ständig neu erfinden zu müssen und feiern sich selbst dafür. Staatsführung werde so zum „Improvisationstheater“, welches das Bestehende ins Unrecht setzt, obwohl nichts Besseres in Sicht ist. Am Ende landet man dabei aber nur im „Gefängnis seiner Selbstheit“ (Voegelin) und hat weder einen Zugang zur Komplexität der tatsächlichen Realität noch zur Geschichte oder kosmischen Ordnung.
Voegelin hält dies nun im Gegensatz zu Sloterdijk für kein ausschließliches Phänomen der Moderne. Vielmehr sei dieser „Gnostizismus“ ein „langsamer, sich über ein Jahrtausend erstreckender Prozeß“, der im neunten Jahrhundert mit dem irischen Gelehrten Scotus Eriugena begonnen habe. Im Kern will Voegelin darauf aufmerksam machen, daß alle Abwandlungen des christlichen Glaubens nur aus Selbstverwirklichungsgründen vorgenommen worden seien. Auch in allen anderen Religionen seien gnostische Bewegungen festzustellen, aber das Christentum sei besonders anfällig dafür, weil es eine recht anspruchsvolle, intellektuelle Religion sei, die gerade dadurch aber die Intellektuellen einlade, sich selbst daran zu versuchen, einen neuen Glauben bzw. eine neue Kirche zu stiften. In den letzten Jahrhunderten führte dies zur Etablierung von „politischen Religionen“, die abstreiten, Religion zu sein, aber strukturell genauso argumentieren.
Diese gnostischen Bewegungen, politischen Religionen bzw. harten und sanften Totalitarismen sind bis heute wirksam, und die meisten Reaktionen darauf sind ebenfalls Wunschgebilde von geltungssüchtigen Intellektuellen, die sich die Welt so zurechtbasteln, wie es ihnen gefällt. Voegelin hört sich durchweg sehr theologisch und philosophisch an, dennoch bestand er immer darauf, ein Politikwissenschaftler zu sein. Das hatte gute Gründe: Er strebte eine grundsätzliche Kritik der modernen Ideologien an und machte auch konkrete Vorschläge, auf welchem Fundament eine Politik nur aufgebaut werden könne.
Am deutlichsten wird dies bei seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus. „Wie mittelalterliche und puritanische Sektierer und wie Bakunin nimmt Marx eine Metanoia an, einen Wandel des Herzens als das entscheidende Ereignis, das die neue Epoche einleiten wird“, kritisiert Voegelin. Ein solcher Politikansatz laufe darauf hinaus, eine „massenhafte Veränderung der Menschen“ in der Hoffnung zu betreiben, durch die revolutionäre Erfahrung ließe sich ein „Gottesvolk“ schaffen. Das ist jedoch eine absurde Vorstellung. Der Mensch bleibt, wie er ist. Seine negativen Seiten lassen sich nicht durch eine Revolution austreiben. Einzig darauf bauen aber sowohl der Marxismus als auch der heutige Multikulturalismus auf. Ihr wesentlichstes Kennzeichen ist damit die Verleugnung der menschlichen Natur und dadurch Realitätsverweigerung, die bis zum Exzeß getrieben wird.
Es greift allerdings zu kurz, deshalb nur die entsprechenden Ideologien zu kritisieren. Vielmehr ist der Linkstrend schon in der Geschichte angelegt, denn – so Voegelin: „Die Gefahr des Abgleitens von der Rechten zur Linken liegt in der Natur des Traumes.“ Auf eine apokalyptische Endsituation laufe dieser generelle „Linkstrend“ nur deshalb nicht zu, weil die westlichen „partiellen Revolutionen der Vergangenheit“ aus Systemerhaltungsgründen immer wieder abgebremst wurden, um einen Zustand öffentlicher Ordnung zu erhalten sowie wirtschaftliche Interessen und kulturelle Traditionen soweit zu wahren, daß kein historischer Gegenausschlag erfolgte. An ihr utopisches Endziel gelangen die modernen Ideologien daher niemals. Voegelin betont dazu: „Die siegreichen Gnostiker können weder die menschliche Natur verklären noch ein irdisches Paradies etablieren. Was sie in der Tat erreichen, ist ein allmächtiger Staat, der rücksichtslos jede Quelle von Widerstand ausschaltet, in erster Linie die lästigen Gnostiker selbst.“
Dieser Staat begründet seine Machtfülle heute insbesondere damit, daß er ja lediglich die Bürger repräsentiere, die entsprechende Vertreter durch Wahl dazu bevollmächtigt hätten, das Gemeinwesen zu führen. Was aber nun, wenn diese gewählten Repräsentanten für nichts mehr stehen, die Interessen des Volkes übergehen oder lediglich ihren Eigeninteressen folgen? Bei dieser Frage erinnert Voegelin an den existenziellen Sinn einer jeden Repräsentation. Es genüge nicht, „wenn eine Regierung im konstitutionellen Sinn repräsentativ ist“, d.h. wenn es lediglich ein Gehäuse gibt, das dafür sorgt, daß Politiker gewählt werden. Von Repräsentation im existenziellen Sinne könne erst die Rede sein, wenn „die Idee der Institution verwirklicht“ werde.
Ein deutscher Staat, der eine Weltgesellschaft anstrebt, die Auflösung der eigenen Kultur vorantreibt, die eigene Bevölkerung austauscht und es nicht für nötig erachtet, das eigene Fortbestehen demographisch und institutionell zu sichern, kann demnach nicht repräsentativ sein, weil er seine eigene Grundidee verraten hat. Voegelin zufolge setzt Repräsentation voraus, daß der Staat einen Selbsterhaltungstrieb hat, der sich nicht nur auf die Macht bezieht, sondern auf das eigene Volk beziehungsweise die eigene Nation. Einen blinden Nationalismus lehnt er dennoch ab, da es die Aufgabe der Herrschaft sei, „die Gesellschaftsordnung in Einklang mit der kosmischen Ordnung zu bringen“.
Anders als aufklärerische Denker, die eigens entwickelte abstrakte Prinzipien als „rational“ deklarieren, und anders als die mathematisierten Naturwissenschaften, die mit allgemein anerkannten Methoden zu endgültigen Beweisen kommen wollen, die auch in die soziale Wirklichkeit eingreifen, versteht Voegelin unter Rationalität die „Anerkennung der Seinsverfassung“. Doch wie gelangt man zu dieser? Wie läßt sich das, was die Welt im Innersten zusammenhält, erkennen? Und wo führt der Weg zur Wahrheit entlang, sollten Aufklärung und Wissenschaft nicht alles erklären können? Voegelin schreibt dazu: „Die Wahrheit des Menschen und die Wahrheit Gottes sind unlösbar eines. Der Mensch wird in der Wahrheit seiner Existenz sein, wenn er seine Psyche der Wahrheit Gottes geöffnet hat; und die Wahrheit Gottes wird in der Geschichte offenbar werden, wenn sie die menschliche Psyche zur Empfänglichkeit für das unsichtbare Maß geformt hat.“
Der Philosoph Norbert Bolz betonte in seinem Buch Die ungeliebte Freiheit (2010), daß menschliche Macht abhängig mache und göttliche Macht frei. Das Heilige ziehe der Freiheit eine Grenze. Wirklich frei und politisch handeln kann der Mensch also nur, wenn er weiß, was er gestalten und bewirken kann und wo dem Menschen generell Grenzen aufgrund seiner eigenen Begrenztheit gesetzt sind, die er in der Realität nicht überwinden kann, sondern – wenn überhaupt – nur theoretisch im Leben des Geistes bzw. im Traum.
Das Träumen mit dem Leben nicht zu verwechseln, ist nun die große Mahnung, die Eric Voegelin in seinen nicht ganz einfach zu durchdringenden Werken den Bürgern und Politikern mit auf den Weg gegeben hat. Zu seinen Lebzeiten hat darauf jedoch leider kaum einer gehört. Die Realitätsverweigerung der Eliten ist erst in den letzten Jahren ein bestimmendes Thema geworden, weil neben der Politik insbesondere auch die Medien, die eigentlich als Kontrollinstanz in Erscheinung treten sollten, dem Dauermodus des Träumens verfallen sind. Es bleibt deshalb zu hoffen, daß die derzeitigen politischen und medialen Eliten nicht nur durch andere, ähnlich gestrickte ausgetauscht würden, sondern die Elite der nächsten Generation Voegelin gelesen und verinnerlicht haben werde.
Literatur:
Norbert Bolz: Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht. München 2010.
Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Berlin 2014.
Eric Voegelin: Realitätsfinsternis. Berlin 2010. Die Neue Wissenschaft der Politik. München 2004. Die politischen Religionen. München 1996.