Italiens heiliger Eigennutz
Von Rainer Liesinger
Wer sich auf das „Land, wo die Zitronen blüh’n” (Goethe), verläßt, wird sich alsbald hintergangen sehen. Das zeigt die Vergangenheit, das bestätigt die Gegenwart. Italien wechselte im Ersten Weltkrieg die Fronten, indem es sich vom Dreibund löste und auf der Seite der Entente (Frankreich, Britannien) gegen den verbliebenen Zweibund (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn) in den Krieg eintrat. Dafür erhielt es von Österreich („c’est ce qui reste“ nach Clemenceau) nicht nur das südliche Tirol als Beute, sondern auch das Kanaltal und Teile des Mießtals. Niemand schritt dagegen ein, als es sich im Hinterland von Triest sowie in Istrien und an der dalmatinischen Küste festsetzte. Auch nicht als der „Duce“ dem Königreich Italien Äthiopien, Albanien und Libyen zur Gänze einverleibte und mithilfe des „Führers“ 1941 Teile des Königreichs Jugoslawien annektierte. Und wo der „Genio del Fascismo“ herrschte, wurde ökonomisch ausgebeutet und kulturell entnationalisiert, will sagen rücksichtslos „italianisiert“ oder gar „re-italianisiert“, wie es unter historisch-ideologischem Rückgriff auf das Imperium Romanum gemäß faschistischem Sprachgebrauch hieß.
Nur mit völliger Verblendung und „Volk-ohne-Raum“-Eroberungswahn ist es zu erklären, daß sich der Mann aus Braunau am Inn, der als Frontsoldat während des ersten „Völkerringens“ die Unzuverlässigkeit dieses Seitenwechslers miterlebte, für den von ihm maßgeblich vom Zaun gebrochenen zweiten weltumspannenden Krieg just Italien als Achsenpartner erwählte. Und selbst als die Wehrmacht überall dort zu Hilfe kommen mußte, wo Mussolinis Truppen unterlagen und zurückwichen – woraufhin die Alliierten vom Stiefelabsatz her gen Norden vordrangen – ließ Hitler seinen Bundesgenossen, den der Faschistische Großrat abgesetzt und inhaftiert hatte, befreien und in der von September 1943 bis April 1945 existierenden „Repubblica Sociale Italiana (di Salò)“ (RSI) als Satrapen weiter „herrschen“. Auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs war das „antifaschistisch-demokratische“ und republikanische Italien, in dessen Parlament Mussolinis Verehrer – vereint in der von Kämpfern der RSI unter Giorgio Almirante gegründeten neofaschistischen Partei „Movimento Sociale Italiano“ (MSI) – saßen, als wäre nichts geschehen, Kriegsgewinner. Und damit reicht seine auf „sacro egoismo“ („heiligem Eigennutz“) fußende politische Kontinuität bis in unsere Tage.
Davon zeugt nicht nur die Schuldzuschreibung der angeblichen Verantwortung Deutschlands für die finanz- und wirtschaftspolitische Misere des (Gründungsmitglieds und EU-Partner-)Landes durch Politik und Medien Italiens, sondern gleichermaßen ein soeben ergangenes Urteil des römischen Verfassungsgerichtshofs, wonach italienische Opfer nationalsozialistischer Untaten während der deutschen Besatzungszeit (nach 1943) Deutschland auf Entschädigung verklagen können. Der höchstrichterliche Spruch ist trotz eines vom Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag 2012 zugunsten der Bundesrepublik getroffenen Entscheids gefällt worden. Berlin hatte sich 2008 – in Abstimmung mit Rom – an Den Haag gewandt, um die Rechtslage klären zu lassen, da vor italienischen Gerichten diverse Klagen gegen Deutschland anhängig waren. Dies, obwohl die vormalige Bundesrepublik auf der Grundlage eines Abkommens aus dem Jahre 1961 an Italien, das übrigens gemäß Friedensvertrag mit den Alliierten schon 1947 auf alle Reparationszahlungen verzichtet hatte, 40 Millionen Mark Entschädigung zahlte, eine Summe, die nach heutigem Wert ungefähr 200 Millionen Euro entspräche. Es wird die Vorstellung nicht abwegig sein, daß von dem seinerzeit in die Milliarden gehenden Lire-Betrag die „Opfer nationalsozialistischer Untaten“ kaum etwas gesehen haben.
Keinesfalls ist Deutschland laut IGH-Entscheid verpflichtet, Entschädigungsleistungen zu erbringen, welche ausländische Gerichte ausländischen Opfern zusprechen, da Urteile nationaler Gerichte gegen ein anderes Land laut IGH-Entscheid die Staatenimmunität verletzen. Verhandlungen über Entschädigungen könnten nur zwischen Staaten geführt werden, hieß es außerdem im IGH-Richterspruch, der Italien zudem aufgegeben hatte, sicherzustellen, daß italienische Gerichte weder Urteile gegen Deutschland erließen, noch die völkerrechtswidrige Beschlagnahme oder Verpfändung deutschen Eigentums zuließen, um Geldforderungen der Opfer durchzusetzen. Ein Schalk wer annähme, daß römische Parlamentarier nicht sogleich den Verfassungsgerichtshof in der Absicht angerufen hätten, jenes Gesetz zur Umsetzung des Haager IGH-Urteils, an dessen Ausarbeitung sie mitgewirkt haben, alsbald zu Fall zu bringen. Was die Richter mit der Begründung taten, „das im internationalen Recht allgemein anerkannte Prinzip der Staatenimmunität“ könne „in Italien nicht gelten“, sobald es sich „um illegitime Verhaltensweisen eines Staates“ handele, „die als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen“ seien.
Man mag sich angesichts dieser höchstwahrscheinlich auch politisch insinuierten Verschlagenheit römischen (Höchstrichter-)Rechts allen Ernstes fragen, warum sich das „gelenkt demokratische“ Rußland an das Völkerrecht halten sollte. Oder das von einer (kommunistischen) Partei beherrschte „volksrepublikanische“ China. Ganz zu schweigen von den Vereinigten Staaten, die sich kaum um die internationale Ordnung scheren, sobald es um ihre Interessen geht. Wider das Völkerrecht, dessen Grundsatz, kein Land dürfe über ein anderes zu Gericht sitzen, doch eigentlich just Italien sowohl ein hohes juristisches Gut, als auch ein zuträgliches internationales Ordnungsprinzip sein müßte.
Oder sollte es etwa auf zahllose Klagen aus Ländern erpicht sein, die das faschistische Italien einst selbst mit Gewaltherrschaft und Krieg(sverbrechen) überzog? Wie Äthiopien, wo die Führungsschicht und die Geistlichkeit nahezu ausgerottet wurden und Hunderttausende dem Gaskrieg zum Opfer fielen, oder andere Länder in Nord- und Ostafrika, die ehedem zum italienischen Kolonialbesitz gehörten. Kläger gegen Italien fänden sich auch auf dem Amselfeld (Kosovo), in Mazedonien und Griechenland, wo es zwischen 1941 und 1943, und in Teilen Südfrankreichs, wo es zwischen 1940 und 1943, sowie in Korsika, wo es von 1942 bis 1943 brutaler Besatzer war. Italianisierungsopfer und deren klageberechtigte Nachfahren aus Slowenien („Provincia di Lubiana“) und Kroatien (Istrien, Zadar, Kvarner Bucht und Süddalmatien), Gebieten also, die nach dem Ersten respektive während des Zweiten Weltkriegs als Teile Julisch Venetiens dem Königreich Italien eingegliedert waren, könnten ebenfalls bei Gerichten in ihren Heimatländern juristisch gegen das heutige Italien vorgehen und – parallel zum römischen Beispiel gegenüber Berlin – die ersatzweise Beschlagnahme italienischer Einrichtungen in ihren Ländern beanspruchen, wenngleich auch deren Entschädigungsansprüche – ebenso wie jene der vom titoistischen Jugoslawien ermordeten oder vertriebenen Italiener („Esuli“) – im Vertrag von Osimo (1975) zumindest teilweise abgegolten waren.
Man denke schließlich auch an jene Süd-Tiroler, die nicht allein der erbarmungslosen Italianisierungspolitik bis 1943, sondern auch deren kaum weniger gewalttätiger Fortsetzung durch das „demokratische Italien“ nach 1945 zum Opfer fielen, besonders zwischen den 1950er und 1970er Jahren. Hierunter fallen samt und sonders die der Folter unterworfenen Süd-Tiroler Freiheitskämpfer. Vor deutschen und österreichischen Gerichten sollten nicht zuletzt Erhard Hartung, Peter Kienesberger und Egon Kufner, drei noch lebende Opfer einer dortigen Justizfarce, gegenüber Italien Rehabilitations- und Entschädigungsansprüche einklagen, weil sie seit einem 1972 in Florenz ergangenen Urteil nach einem Verfahren, welches österreichische und deutsche Höchstgerichte als grund- und menschenrechtswidrig klassifiziert hatten, als Attentäter und Mörder im Zusammenhang mit einem Anschlag gelten, den begangen zu haben sie vehement bestreiten und welcher zufolge einer 2013 publizierten Studie des österreichischen Militärhistorikers Hubert Speckner italienischen Geheimdienst- und Neofaschistenkreisen zuzuschreiben ist, denen es – mit Wissen und im Auftrag von Inhabern höchster Ämter in Regierung- und Militär – darum ging, die Spannungen zwischen Rom und Wien in der Süd-Tirol-Frage aufrecht zu erhalten sowie zudem den später von Giulio Andreotti ausgesprochenen „Pangermanismo“-Verdacht verschwörungstheoretisch zu untermauern.
Nach alldem läßt sich aus historisch-politischer begründeter Erfahrung mit Italien voraussagen: Kämen aus all den genannten Ländern und Gebieten sowie Opferkreisen Klagen auf Repubblica Italiana zu, würden sich ihre Repräsentanten, gleich welcher politischen Couleur sie angehören, in gewohnter Verschlagenheit sofort auf den Richterspruch des IGH und die völkerrechtliche Staatenimmunität berufen – „Sacro egoismo“ eben.