Freie, geheime und allgemeine Wahlen…
Von Jan Ackermeier
Nach dem Zerfall des Habsburgerreiches beschließt die Provisorische Nationalversammlung am 27. November 1918 ein neues Wahlrecht. Wahlberechtigt sind demnach alle österreichischen Staatsbürger – Männer und erstmals auch Frauen – nach Erreichung des 20. Lebensjahres. Österreich ist damit nach Finnland (1906), Norwegen (1913) und Dänemark (1915) und etwa zeitgleich mit Deutschland (30.11.1918), aber lange vor „alten Demokratien“ wie Großbritannien (1928) oder Frankreich (1946) eines der ersten Länder Europas, das den Frauen das aktive und passive Wahlrecht auf nationaler Ebene gewährt.
Bei den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung – den ersten allgemeinen, freien und demokratischen Wahlen in Österreich – am 16. Februar 1919 können die Frauen von ihrem neuen Recht erstmals Gebrauch machen. Die Sozialdemokraten werden mit 1,2 Millionen Stimmen und 72 Mandaten stärkste Partei, etwa fünf Prozent vor den Christlichsozialen. Die verschiedenen deutschnationalen Parteien kommen zusammengenommen auf etwa 13 Prozent.
Die provisorische Regierung Renner tritt daraufhin am 3. März zurück, und Karl Seitz wird Erster Präsident der neuen Nationalversammlung und damit auch erstes Staatsoberhaupt der Republik. Otto Bauer übernimmt das Außenamt, Ferdinand Hanusch die Soziale Verwaltung, Julius Deutsch das Heereswesen.
Am 4. Mai 1919 finden in Wien schließlich die ersten Gemeinderatswahlen nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht statt. Die Sozialdemokraten erringen einen fulminanten und in dieser Höhe nicht erwarteten Sieg und erhalten 100 der 165 zu vergebenden Mandate – der Beginn des als „rotes Wien” bezeichneten Effekts. Die Christlichsozialen kommen auf 50, die Tschechoslowakische Partei auf acht, die Großdeutschen auf vier und die Jüdisch-Nationalen auf drei Sitze.
Am 10. Juni 1920 zerbricht die rot-schwarze Koalition in der Nationalversammlung an der wenig bedeutenden Frage der Wahl von Heeresvertrauensmännern. Die im Juli gebildete Proporzregierung aus allen im Parlament vertretenen Parteien bereitet – nach der Annahme der Verfassung durch die Nationalversammlung am 1. Oktober – die ersten „echten” Nationalratswahlen am 17. Oktober 1920 vor. Die Sozialdemokraten verlieren stark (von 40,8 Prozent auf 35,9 Prozent, 69 Mandate), die Christlichsozialen werden stimmen- und mandatsstärkste Partei (41,8 Prozent, 85 Mandate). Die Deutschnationalen erreichen 17,25 Prozent der Stimmen und 28 Mandate.
Die schon länger prekäre Zusammenarbeit von Sozialisten und Christlichsozialen, zuletzt in der Übergangsproporzregierung Mayr I, wurde nach der Wahl nicht fortgesetzt: Die Sozialdemokraten traten am 22. Oktober 1920 aus der Regierung aus. Der christlichsoziale Michael Mayr blieb Leiter der Staatskanzlei; sein Kabinett wurde mit Inkrafttreten des Bundesverfassungsgesetzes am 10. November 1920 die erste Bundesregierung Österreichs. Der neue Nationalrat wählte am 20. November 1920 die Bundesregierung Mayr II, die bis 21. Juni 1921 amtierte. Nachfolger wurde ein Kabinett unter Johann Schober, der wie Mayr sowohl das Amt des Bundeskanzlers als auch das des Außenministers innehatte. Die christlichsozialen Bundeskanzler regierten Österreich in der Folgezeit in wechselnden Bündnissen mit dem „dritten Lager“, was die schwierige innenpolitische Lage in der Ersten Republik in den folgenden Jahren weiter verschärfte.
Typisch für die Erste Republik waren auch häufige Wechsel an der Regierungsspitze – bis zur Wahl 1923 sollten neben Mayr und Schober noch Walter Breisky und schließlich Ignaz Seipel das Amt des Bundeskanzlers ausüben, davon Breisky allerdings nur einen Tag lang.