Wohin geht die Reise Süd-Tirols?
Von Hartmuth Staffler
Ein steirischer Lokalpolitiker hat kürzlich einer Süd-Tiroler Besuchergruppe erläutert, wie gut es Süd-Tirol unter Italien gehe. Das war peinlich, aber man kann dem Mann nicht einmal einen Vorwurf machen. Es sind ja Süd-Tiroler selbst, vor allem SVP-Politiker, die das Märchen vom „uns geht es gut“ und „wir haben die beste Autonomie der Welt“ verbreiten.
Gewiß, die Zeiten des Faschismus, als Schulkinder verprügelt wurden, wenn sie Deutsch sprachen, sind vorbei, wie auch das nationalistische Nachkriegsitalien, in dem die Süd-Tiroler weitgehend rechtlos waren. Die staatlichen Behörden fügen sich heute, wenn auch widerwillig und mit bürokratischen Tücken, der Zweisprachigkeitspflicht. Es gibt sogar zweisprachige Formblätter für die Steuererklärung, auch wenn sie „wegen technischer Schwierigkeiten“ erst am Tag vor dem Abgabetermin erscheinen und falsch übersetzt sind. Wer hartnäckig ist und Schikanen nicht fürchtet, kann gegenüber Polizei und Carabinieri sein Recht auf Gebrauch der Muttersprache geltend machen und auch Erfolg haben. Der offensichtliche Wohlstand des Landes dank blühenden Fremdenverkehrs, intensiver Landwirtschaft und hochspezialisierter Industrie trägt mit dazu bei, Süd-Tirol als Insel der Seligen zu sehen.
Die Realität ist leider anders. Der Nationalismus nimmt in Italien wieder zu, während der Widerstandswillen der Süd-Tiroler bzw. ihrer derzeitigen politischen Führung abnimmt. Daß einfache Bürger bei Steuer- oder Verkehrskontrollen Schwierigkeiten vermeiden und nicht auf ihrer Muttersprache beharren wollen, kann man noch verstehen. Daß aber Landeshauptmann Luis Durnwalder auf die vorgeschriebenen zweisprachigen Beipackzettel für Medikamente verzichtet hat, ist nicht verständlich. Es genüge, wenn in den Apotheken auf Antrag ein deutscher Beipackzettel ausgedruckt werde, schrieb Durnwalder nach Rom. Kaum jemand nimmt diese komplizierte Prozedur in Anspruch, aber theoretisch ist das Recht auf Muttersprache gewahrt. Theoretisch ist auch die in Bozen auf Wunsch Durnwalders entstandene Universität mehrsprachig, in der Praxis herrscht aber Italienisch vor.
Die Sprachenfrage verlagert sich in Zeiten der Liberalisierung immer mehr in den privaten Bereich, in dem es keine Vorschriften gibt. So hat sich die Telefongesellschaft SIP an die Zweisprachigkeitspflicht gehalten, solange sie staatlich war. Sofort nach der Privatisierung vor wenigen Jahren wurde nur noch die italienische Sprache verwendet. Unter die Räder kommt die deutsche Sprache auch beim Verbraucherschutz. Die italienische Polizei wacht streng darüber, daß wichtige Verbraucherinformationen wie Inhaltsangaben auf Lebensmitteln in Italienisch verfaßt sind. Wenn nur deutsch beschriftete Lebensmittel im Regal sind, hagelt es sofort saftige Strafen. Zwei Drittel der Bevölkerung müssen also auf Verbraucherinformationen in ihrer Sprache verzichten.
Zu den vielen zermürbenden Alltagsproblemen kommen politische Dauerbrenner wie die Ortsnamen und die faschistischen Denkmäler. Einzig offizielle Ortsnamen in Süd-Tirol sind immer noch die faschistischen Erfindungen. Die hergebrachten deutschen und ladinischen Ortsbezeichnungen werden nur lokal geduldet und gelten international nicht, sodaß selbst amtliche österreichische Einrichtungen wie die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) auf ihren Karten nur die faschistischen Fantasienamen verwenden. Lösungsvorschläge reichen von der „historischen Lösung“ (Verwendung der überlieferten deutschen und ladinischen Ortsnamen und der wenigen italienischen, die 1918 bereits üblich waren) über Prozentlösungen bis zu der von den Italienern vertretenen Forderung, alle Namen bis zur letzten Ortschaft, in der kein einziger Italiener wohnt, zweisprachig zu machen. Damit würden zwar die überlieferten Namen endlich legitimiert, aber auch alle faschistischen Erfindungen beibehalten werden. Die SVP scheint einen faulen Kompromiß anzustreben, nur um dieses leidige Thema endlich vom Tisch zu haben.
Das ebenso leidige Thema der faschistischen Denkmäler schien nach einer Zusage des früheren italienischen Kulturministers bereits vom Tisch. Am Finanzamt in Bozen thront ja der faschistische Diktator Mussolini hoch zu Roß, das „Siegesdenkmal“ in Bozen verkündet, daß Italien den Süd-Tirolern „Sprache, Recht und Kultur“ gebracht habe, Beinhäuser mit Überresten von Gefallenen markieren die „heiligen Grenzen“ Italiens, Denkmäler in Meran und Bruneck verherrlichen die verbrecherischen Vernichtungskriege Italiens gegen Libyen und Äthiopien. Laut dem Minister hätte Süd-Tirol diese Denkmäler „entschärfen“ dürfen, geschehen ist aber nichts, und es werden weiterhin Kränze an den Schandmälern niedergelegt.
Die neue Regierung Monti zieht die nationalistische Schraube weiter an. Süd-Tirol wird stärker als andere Regionen zur Sanierung der katastrophalen Staatsfinanzen herangezogen, was gegen alle Abmachungen verstößt. Gleichzeitig wird mit nationalistischen Parolen der italienische Zentralismus gestärkt. So soll die blutrünstige, österreichfeindliche italienische Nationalhymne in allen Schulen unterrichtet werden. Die Innenministerin hat den Bürgermeistern erklärt, daß sie „staatliche Funktionäre“ seien und daher in erster Linie die Interessen des Staates und nicht ihrer Bürger zu vertreten hätten; das erinnert stark an die Zeit der faschistischen Amtsbürgermeister.
Noch mehr Sorge als der nationalistische Zentralismus des Staates bereitet allerdings die Willfährigkeit der Südtiroler Volkspartei (SVP). Aus ihrer Frühzeit bewahrt die SVP, einst kämpferische Vertretung aller deutsch- und ladinischsprachigen Süd-Tiroler, die Forderung nach Selbstbestimmung (und damit Rückkehr zu Österreich) in ihrem Parteistatut. Tatsächlich ist sie aber heute eine Territorialpartei, die sich mit Italien finanziell gut arrangiert hat und von diesem Staat nicht weg will. Aus diesem Grund bekämpft die SVP alle Forderungen nach Selbstbestimmung. Sie hat den vom Schützenbund organisierten „Freiheitsmarsch“, bei dem am 14. April 6000 Süd-Tiroler das „Los von Rom“ gefordert haben, scharf verurteilt. Wohl aber ist Landeshauptmann Durnwalder dabei, wenn 300.000 italienische Alpini-Soldaten in einer nationalistischen Orgie Bozen überschwemmen und ihren angeblichen Sieg des Jahres 1918 symbolisch nachvollziehen. Daß die Süd-Tiroler an so viel Unterwürfigkeit keinen Gefallen finden, hat sich schon bei der Landtagswahl 2008 gezeigt, als die SVP erstmals unter die 50 Prozent-Marke (früher über 60 Prozent!) fiel und nur dank der Wahlarithmetik mit 18 Abgeordneten die Mehrheit im 35köpfigen Landtag behielt. Die Freiheitlichen (fünf Abgeordnete), Süd-Tiroler Freiheit (zwei) und Bürgerunion (1) sind klar für die Sezession von Italien, und zwar wollen die Freiheitlichen einen eigenen Staat, während die Süd-Tiroler Freiheit die Rückkehr zu Österreich bevorzugt. Die Landtagswahl 2013 wird zeigen, wohin die Reise geht.