Deutsche Volksgruppen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa.
Das Friedensdiktat von Saint-Germain hatte zur Abtrennung von sechs Millionen Deutschen aus dem österreichischen Staatsverband geführt, die nun unter Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts als nationale Minderheiten in den Grenzen der neuen nichtdeutschen Staaten leben mußten. Obwohl sich diese zum Schutz ihrer Volksgruppen verpflichtet hatten, wurden diese nach dem Prinzip der Beherrschung behandelt, was eine radikale Assimilationspolitik in Gang setzte, die in einem ersten Schritt die fortschreitende Verdrängung des deutschen Elements aus der Öffentlichkeit erreichte.
Der nächste Eingriff betraf Besitztümer und die natürlichen Vorräte. Stärker wirkte sich mancherorts der wirtschaftliche Protektionismus der neuen Regime aus. So wurden in der Tschechoslowakei tschechische Unternehmen bei öffentlichen Aufträgen gegenüber den sudetendeutschen bevorzugt, was in der Weltwirtschaftskrise den Niedergang ganzer Industriezweige (Instrumentenbau, Glasverarbeitung, Textilindustrie) im Sudetenland beschleunigte. Die Folgen waren Massenarbeitslosigkeit und eine Verelendung ganzer Gesellschaftsschichten. Dies führte nicht nur in der ČSR zu einer Auswanderungswelle, betroffen waren auch die Deutschen in der Gottschee, in Siebenbürgen sowie das Deutschtum in Ungarn.
Gleicht man die letzte Volkszählung von 1910 mit den Ergebnissen der Volkszählungen nach 1918 ab, lassen sich regionalspezifische Verschiebungen zeigen, deren Ursachen in der Nationalisierungspolitik der Nachfolgestaaten der k.u.k. Monarchie zu suchen sind. Da 1910 nach dem Kriterium „Umgangssprache“ gefragt wurde, das nicht zwingend mit dem Bekenntnis zur nationalen Zugehörigkeit zusammenfallen mußte, kam es nach 1918 zwischen deutscher und slawischer Seite zu heftigsten Kontroversen, weil die neuen Regime in den Nachfolgestaaten die früheren Zählungen anzweifelten.
In der cisleithanischen (österreichischen) Reichshälfte gaben 1910 von den 27,963.872 Staatsbürgern 9,950.266 (35,6%) Deutsch als Muttersprache an. In Transleithanien (ungarischen Hälfte) waren es von den 20,886.487 Einwohnern 2,037.435, die Deutsch als Muttersprache angaben. Zieht man von beiden Zahlen die Bevölkerung der Republik Deutsch-Österreich ab, ergibt das eine Anzahl von sechs Millionen Personen deutscher Volkszugehörigkeit, die 1918 der Tschechoslowakei, dem Staat der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS), Italien, Ungarn und Rumänien zufielen.
Wer das Schicksal der deutschen Volksgruppen Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas seit der Wende von 1989 verstehen möchte, muß deren gesamte Geschichte im 20. Jahrhundert berücksichtigen, weil sich ihre aktuellen sozialen, politischen, demographischen, kulturellen, geistigen und wirtschaftlichen Zustände nur unter Berücksichtigung der Ereignissen der Jahrzehnte davor richtig begreifen lassen.
Daß die Mutterländer der deutschen Volksgruppen – trotz der jetzigen, deutlich geringeren Zahlen – auch heute noch Verantwortung für diese Menschen haben, ist nicht überall bekannt. Diese Volksgruppen haben jahrzehntelang wertvolle Einflüsse auf die Urheimat gehabt: Politiker, Künstler, Wissenschafter, Dichter, Soldaten u. v. a andere haben uns bereichert; es liegt an uns allen, uns dessen zu erinnern und Dank nicht nur in hohlen Worten zurückzuerstatten, sondern geistig-emotional und wirtschaftlich mitzuhelfen, daß die deutschen Volksgruppen und Sprachinseln weiterhin einen Bestand haben.
112 Seiten zahlreiche Landkarten und Lichtbilder. Euro 8,20; ISBN: 978-3-902350-35-0; Eckartschriften-Verlag