Rückblende „Option“
Vor 75 Jahren verschacherten Hitler und Mussolini die Tiroler südlich des Brenners
Von Rainer Liesinger
Für Tiroler im südlichen Teil des einstigen Habsburgerkronlandes ist hinsichtlich der historischen Erinnerungsdaten anno 2014 ein besonders schmerzlicher Jahrestag zu „bewältigen”: Der 21. Oktober. Vor einem Dreivierteljahrhundert gab der nationalsozialistische „Führer“ Adolf Hitler seinem faschistischen Pendant, dem „Duce“ Benito Mussolini, das Land unterm Dolomitenstock preis. Mit dem damals zwischen Berlin und Rom in Kraft getretenen „Optionsabkommen” sollte gewährleistet werden, was nach der Machtübernahme der Schwarzhemden in Italien 1922 zwischen Brenner und Salurner Klause trotz brutaler Entnationalisierungspolitik nicht erreicht worden war, nämlich die „ewige Italianità“ dieses Landstrichs. Für dessen Eroberung hatte die Irredentisten-Bewegung gemäß ihrer seit Mitte des 19. Jahrhunderts propagierten „Wasserscheiden-Theorie“ unablässig gefochten, und für dessen Einverleibung wechselte Italien 1915 die Seite, trat gegen den aus Deutschem Reich und Österreich-Ungarn bestehenden Zweibund in den Krieg ein und erhielt 1919 in Saint-Germain-en-Laye Süd-Tirol als Beute.
Schon in einer seiner weniger bekannten Schriften aus der „Kampfzeit“ – „Die Südtiroler Frage und das Deutsche Bündnisproblem” (München 1926) – hatte der „böhmische Gefreite“ zu erkennen gegeben, daß er die Süd-Tiroler als ein Hindernis auf dem Weg zur Annäherung an den späteren Achsenpartner betrachtete. Nach dem „Anschluß“ Österreichs im März 1938 zerstreute Hitler anläßlich seines Staatsbesuchs italienische Befürchtungen, eine Rückgliederung Südtirols könnte nunmehr bevorstehen, indem er am 7. Mai 1938 in Rom erklärte: „Es ist mein unerschütterlicher Wille und mein Vermächtnis an das deutsche Volk, daß es die von der Natur uns beiden aufgerichtete Alpengrenze immer als eine unantastbare ansieht.” Diese Erklärung fand in dem am 22. Mai 1939 in Berlin von den Außenministern Joachim von Ribbentrop und Galeazzo Graf Ciano (Schwiegersohn Mussolinis) im Beisein Hitlers unterzeichneten „Stahlpakt“ ihre Bekräftigung. Und um die in diesem Abkommen genannte „ewige Grenze“ auch „volkstumspolitisch“ zu untermauern, handelten Ciano und Reichsführer-SS Heinrich Himmler das Optionsabkommen aus.
Es sah vor, daß sich Deutschsüdtiroler und Ladiner in der Provinz Alto Adige („Hochetsch”) sowie die Bewohner des zur Provinz Trient gehörenden Südtiroler Unterlandes, aber auch jene des bis 1918 zu Kärnten gehörenden Kanaltals – es erstreckt sich vom heutigen Grenzübergang Thörl-Maglern/Arnoldstein über Tarvis/Tarvisio bis Pontafel/Pontebba – sowie des Fersentals und der deutschen Sprachinseln im Trentino für Italien oder für das Deutsche Reich zu entscheiden hatten. „Optierten“ sie bis zum 31. Dezember 1939 für das Reich, so war damit die Aussiedlung verbunden. Entschieden sie sich für den Verbleib in der angestammten Heimat, so in der Gewißheit, keinen Schutz mehr für ihre Volksgruppe in Anspruch nehmen zu können.
Schon im Juni 1939 war der Inhalt des schändlichen Abkommens bekannt geworden. Daraufhin traten Vertreter des (der Kirche nahestehenden) „Deutschen Verbandes“ (DV) wie Repräsentanten des (NS-nahen) „Völkischen Kampfrings Südtirols“(VKS), die sich bei Kanonikus Michael Gamper im Marien-Internat zu Bozen getroffen hatten, einhellig dafür ein, geschlossen für den Verbleib in der Heimat zu stimmen. Am 1. August 1939 wurde im Verlautbarungsblatt der Staatsbahnen angekündigt, daß „in nächster Zeit Transporte von Personen und Gütern aus dem Hochetsch in südliche Provinzen abgehen“ sollten. Giuseppe Mastromattei, der römische Präfekt in Bozen, ließ über die Zeitschrift „Atesia Augusta“ verlauten, „wer immer Treue zu Italien und zu den Einrichtungen des Regimes bewiesen“ habe, dürfe bleiben. Da die meisten Süd-Tiroler das faschistische Regime ablehnten, waren sie folglich von Deportation in südliche Provinzen bedroht. Hinzu kam, daß gemäß Arbeitsvermittlungsgesetz nur Italiener als Ersatz für entlassene Deutschsüdtiroler beschäftigt werden durften. Italienischen Privatbetrieben wurde die Beschäftigung von Süd-Tirolern ebenso untersagt wie den Obstgenossenschaften die Beschäftigung deutschtiroler Saisonarbeiter. Höchste Repräsentanten des Faschismus gaben in öffentlichen Äußerungen zu verstehen, für Italien optierende Süd-Tiroler könnten nach Sizilien umgesiedelt werden, wo das Regime gerade eine Landreform mit dem Ziel in Gang gesetzt hatte, 20 000 neue Hofstellen zu schaffen.
Vor dem Hintergrund dessen hatte sich der VKS direkt an Himmler gewandt. Dieser erklärte einer VKS-Abordnung anlässlich einer Begegnung am Tegernsee unverblümt, daß das Deutsche Reich die „Dableiber“, also die Optanten für Italien, ihrem Schicksal, mithin dem unabwendbaren nationalen Untergang, überlassen werde. Der VKS schwenkte daraufhin um und begann, mit reichsdeutscher Unterstützung, für eine möglichst geschlossene Option für Deutschland zu werben. Kanonikus Michael Gamper und sein Freundeskreis von DV und Andreas Hofer-Bund (AHB) waren hingegen überzeugt, daß man im Lande bleiben und auf eine Änderung der Verhältnisse hoffen müsse. Die emotionalen Auseinandersetzungen führten zu einer tiefgreifenden Spaltung der Bevölkerung, die durch die Dörfer und teilweise auch durch die Familien ging. Es kam zu gegenseitigen Vorwürfen des „Verrats“, wobei die Deutschland-Optanten als „Heimatverräter“ und die „Dableiber“ als„Volksverräter“ beschimpft wurden.
Von den 246 036 Abstimmungsberechtigten optierten 211 799 für die deutsche Staatsbürgerschaft und Aussiedeln, 34 237 votierten für die Beibehaltung der italienischen und Bleiben. Wer ging, ließ alle unbewegliche Habe zurück. In der Folge wurden etwa 76 000 der Optanten für das Reich ausgesiedelt. Ihre Behausungen und Höfe, über deren Wert hastig Kommissionen befanden, erhielten zumeist süditalienische Umsiedler – der ganze Landstrich sollte ja seinen „deutschen Charakter” verlieren. Der Zweite Weltkrieg, an dessen Beginn vor 75 Jahren auch in diesem Zusammenhang zu erinnern ist, verhinderte indes die vollständige Ausführung der Umsiedlung der Optanten ins Reich oder in besetzte Gebiete, die 1941 völlig zum Erliegen kam. Von 1943 an wurde in der „Operationszone Alpenvorland”, zu der Südtirol mit der deutschen Besetzung Norditaliens gehörte, nachdem Mussolini 1943 vom Faschistischen Großrat abgesetzt worden war und in der „Republik von Salò” als Satrap Hitlers „regierte”, nicht mehr nach „Optanten” oder „Dableibern” gefragt. Gestellungsbefehle an die Front erreichten Angehörige beider Lager.
Die Rückkehr der Deutschland-Optanten in ihre Heimat nach dem Kriegsende stieß auf enorme Schwierigkeiten. Es bedurfte trotz des zwischen dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperi und dem österreichischen Außenminister Karl Gruber am 5. September 1946 zu Paris geschlossenen Abkommens über eine (dann bis 1972 von Rom faktisch ad absurdum geführte) Autonomie Süd-Tirols, welche auch die „Revision der Option” zum Gegenstand hatte, zäher Verhandlungen, den zunächst staatenlosen, überdies als Nazis gebrandmarkten, Süd-Tirolern die italienische Staatsbürgerschaft wieder zuzuerkennen. Die damals geschlagenen, tiefen seelischen Wunden sind auf beiden Seiten erst nach vielen Jahren verheilt. Selbst der von Angehörigen beider Lager gegründeten Südtiroler Volkspartei (SVP), an deren Spitze nachmals für gut drei Jahrzehnte der Optant Silvius Magnago stand, fiel es nicht leicht, die Kluft allmählich zu überwinden. Es gebührt Kanonikus Gamper das Verdienst, durch sein leuchtendes Beispiel der Nächstenliebe und Toleranz die Süd-Tiroler nach Kriegsende wieder zu einer handlungsfähigen Volksgruppe zusammengeführt zu haben.